An dem amerikanischen Internetversandhändler Amazon scheiden sich die Geister. Wie viel wurde und wird über die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter in den Versandzentren geschrieben und diskutiert? Zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit wurde in Rheinberg über die Gründung eines Betriebsrats gestritten. Bitter nötig, so die Gewerkschaft, sei dieser. Doch wie fühlt es sich tatsächlich an, bei Amazon zu arbeiten und beispielsweise den ganzen Tag lang Produkte aus den Regalen einzusammeln? Ich hab’s ausprobiert: eine Schicht lang „Picker“ bei Amazon.
„Typisch amerikanisch“, denke ich, als ich meinen Arbeitstag bei Amazon um sechs Uhr in der Früh beginne. Warnweste, Arbeitsschuhe und Mitarbeiter-Ausweis sind zwar noch ziemlich deutsch, beim Morgen-Meeting mit meiner neuen Abteilung wird’s dann aber transatlantisch: Nachdem der zuständige Manager die aktuellen Zahlen und Ziele ausgegeben hat, wünscht er einen guten Tag und ruft gemeinsam mit seinen Mitarbeitern im Chor: „Work hard! Have fun! Make history!“ Die Arme in der Luft. Der ein oder andere muss ob der großen Geste verlegen grinsen. Die meisten aber zeigen sich 100-prozentig motiviert. Und das um kurz nach sechs.Als Tagespraktikant bekomme ich zunächst die Sicherheitseinweisung. Martin, der schon alle Bereiche durchlaufen hat und nun als Trainer bei Amazon arbeitet, führt mich durch die riesigen Hallen. Die kenne ich bereits, will heute aber nicht nur gucken, sondern auch mal mit anpacken. Nicht für ein paar Minütchen, sondern eine volle Schicht lang. Sieben Stunden, 45 Minuten dauert die. Plus 35 Minuten Pause. Die Frühschicht endet um 14.20 Uhr, danach kommt die Spätschicht und arbeitet bis 22 Uhr. An sechs Tagen in der Woche. Jeweils 14 Tage früh und 14 Tage spät packen die Amazonier an. Fünf Tage in der Woche und an zwei Samstagen im Monat. Dafür ist dann eben ein Wochentag frei.„Angenehme Arbeitszeiten“, findet Martin, der früher als Installateur malocht hat. Eine Morgenbesprechung wie bei Amazon gab’s in dem Handwerksbetrieb früher auch. Mit dem Unterschied, dass der Chef diese nur dazu genutzt hat, seine Leute anzuschreien und zu beschimpfen. „Das ist hier anders. Hier wirst du richtig motiviert. Das spornt an“, sagt der Duisburger, der jede Möglichkeit nutzt, sich im Unternehmen fortzubilden.
So laufen wir quer durch die Hallen. Wobei ich ganz nebenbei mein Englisch auffrische. Der Vorarbeiter heißt hier Lead, statt Kiste sagt man Toten und der Kollege, der die bestellten Artikel aus den Regalen holt ist ein Picker. Und als Picker arbeite ich heute auch. So geht’s um kurz nach sieben sozusagen in das Herzstück der Amazon Logistik, in den „Pick-Tower“. Dort verteilen sich auf drei Ebenen hunderte, nein tausende verschiedener Artikel in den Regalen. Wie in einer riesigen Bibliothek lagern CDs, DVDs und Spiele. In den gleichen Fächern warten aber auch Gartenscheren, Kissen, Computerzubehör und unzählige andere Dinge darauf, wieder das Tageslicht zu erblicken. Ein wenig erinnert mich das an den Setzkasten aus meiner Kindheit, in dem chaotisch alle möglichen Erinnerungsstücke aufbewahrt wurden. „Chaotische Lagerhaltung“ nennt man denn auch das Prinzip, wonach die Ware willkürlich dort abgelegt wird, wo Platz ist. Nur der Zentralrechner merkt sich danach, wo ich Barbiepuppe, Rasierklinge und Klopapier wiederfinde. Das folgt keinem Prinzip außer dem, dass nur der Computer weiß, was gut für mich ist.
Als einen seiner besten Picker stellt mir Manager „Dimi“meinen Co-Worker Ralf vor. Das entsprechend bedruckte LAN-Yard adelt den drahtigen Rheinberger als dafür ausgebildet, Neulingen den Weg durch dieses Labyrinth der Waren zu weisen. So ziehen wir weiter zur Transportanlage, wo die leeren „Totens“ auf uns warten. Das sind große gelbe Kisten, in die alles gepackt wird, worum der Scanner uns bittet. Dieses Gerät ähnlich einer Pistole, mit der auch im Einzelhandel der Strichcode von Waren abgelesen werden kann, wird zu unserem ständigen Begleiter. Oder vielmehr zu der Fernbedienung, die uns durch die Gänge steuert. Auf dem etwa visitenkartengroßen Display bekomme ich angezeigt, was ich wo zu holen habe: „ABBA, The best of. Reihe 110. Fach B235.“ Ralf weiß im Gegensatz zu mir sofort, wo er hin muss. Ich laufe hinterher. Oder vielmehr renne ich schon fast, denn mein Co-Worker macht Tempo. Während ich mich noch an den Schildern orientierte, die an jedem Gang hängen, und den Aufklebern vor jedem Fach, steuert Ralf mit der Sicherheit eines Adlers, der seine Beute aus hunderten Metern Entfernung erspäht, auf die einzelnen Waren zu.
Sein Blick wechselt von Display auf Ware. Treffer. Schnell inspiziert er die Verpackung. Sechs-Seiten-Kontrolle heißt das hier. Sobald irgendwas beschädigt ist, wird’s aussortiert. Kaputte Sachen kommen Ralf nicht in die Kiste. Sollte etwa das Buch ein Eselsohr haben, sortiert er es aus. Dafür scannt er die Ware ab und versieht sie auf dem Scanner mit einem d-Vermerk. D wie Damage. Dann wandert das Teil in die „Amnesty Bin“, von wo ein anderer entscheiden muss, wie es weitergeht. Picker wie wir haben für so etwas keine Zeit.
Viel ist geschrieben worden vom Erfolgsdruck, dem ein Amazon-Mitarbeiter ausgesetzt ist. Ich erlebe dagegen, dass viele Mitarbeiter ganz entspannt ihrer Arbeit nachgehen, auch mal ein Schwätzchen halten. Für andere ist es eher eine Frage der Ehre, möglichst viele Picks pro Stunde zu machen. Martin hatte mir noch am Beginn der Schicht erzählt, dass sein persönlicher Rekord bei über 330 Stück pro Stunde liegt. Ein ständiger Wettbewerb, der Ralf im Moment kein einziges Schweißtröpfchen auf die Stirn treibt. Und das, obwohl es im Pick-Tower unangenehm warm ist. Deshalb laufen hier alle mit einer Literflasche Wasser herum, die jederzeit kostenlos aufgefüllt werden kann. Darauf legen auch die Vorgesetzten wert. Verständlicherweise, denn auch mir als Praktikanten wird schnell der Mund trocken.
Eine Schwäche über die mein Co-Worker grinsen muss: „Ich will meinen Job hier gut machen und meine Chance nutzen, im Unternehmen weiter aufzusteigen“, sagt Ralf mir. Die Chancen sind gut. Immer wieder hört man von Mitarbeitern, die sich vom einfachen Picker oder Packer – das sind die, die die von uns herausgesuchten Waren in Pakete packen – zum Lead und weiter bis ins Management hochgearbeitet haben. „Amazon hat dafür nicht ein Zeugnis von mir gesehen“, weiß einer dieser Manager am Ende meiner Tour zu berichten. Der amerikanische Traum eben, den alle leben, denen ich heute mehr oder weniger zufällig über den Weg laufe.
Während wir in der Politik aktuell um den Mindestlohn von 8,50 Euro kämpfen, beginnt ein Amazonier mit knapp über zehn Euro Stundenlohn und einem Zeitvertrag. Dieser werde jedoch schnell entfristet, sofern man einen guten Job mache. Anders als bei den Saisonkräften, die vor allem zum so genannten Q4, dem vierten Quartal mit Weihnachtsgeschäft angeworben werden. Für sie ist klar, dass nach einigen Monaten wieder Schluss ist – bei entsprechenden Leistungen jedoch nicht ausgeschlossen, dass man auch ihnen ein Angebot macht. Nach dem ersten Jahr bei Amazon sind es dann knapp über 11 Euro Stundenlohn. Hinzu kommt eine allgemeine Leistungsprämie von bis zu acht Prozent. Sie bemisst sich an den Kennzahlen des Versandzentrums und wird jedem Kollegen bezahlt. In Rheinberg kommen aktuell so noch einmal sieben Prozent hinzu. Mit Aktien werden die Mitarbeiter dann zusätzlich am Erfolg des Unternehmens beteiligt. Im vergangenen Jahr gab’s erstmals Weihnachtsgeld. Ein Familienvater mit Frau und einem Kind verdient auf diese Weise gut 1.600 Euro netto im Monat.
Ralf ist jedenfalls hoch motiviert. Sein Eifer wirkt keinesfalls gespielt oder so, als ob er mich beeindrucken will oder soll. Er ist ganz einfach mit Leidenschaft bei der Sache, will seine Aufgabe schnell und gut machen. Und ich hechele hinterher. Dann tauschen wir und ich bekomme den Scanner in die Hand. Nun begebe ich mich auf die Suche. Wenn man einmal das Prinzip erkannt hat, findet man die Lagerstellen recht schnell. Zuerst die richtige Regalreihe, dann – wenn man so will – die richtige Spalte und dann die Zeile. Hat was von Excel-Tabellen. Piep. Gescannt, abgelegt und weiter. Sind die Totens voll, kommen sie aufs Band und wir nehmen neue gelbe Kisten auf den Wagen. Dabei warnt uns schon der Scanner vor, wenn ein Toten zu schwer wird. Maximal 15 Kilogramm dürfen sie wiegen. Meist sind es weniger. Nach zwei 5-Liter-Flaschen Motorenöl fordert mich der elektronische Helfer auf, eine neue Kiste zu nehmen. Sollte mal ein Kühlschrank oder ein Flachbildfernseher zu versenden sein, gibt’s spezielle Hilfsmittel und einen zweiten Mann. Doch stehen in Rheinberg ohnehin Kleinteile im Mittelpunkt. Hier hat Amazon klare Schwerpunkte innerhalb des Logistiknetzes gebildet. Gut für den Standort, denn damit braucht DUS2, wie das Versandzentrum firmenintern heißt, derzeit gut 2.500 Arbeitskräfte. In Stoßzeiten wächst die Belegschaft auch schon mal um weitere 1.000 Helfer. Die Agentur für Arbeit sucht deshalb schon längst weit über die Kreisgrenzen hinaus nach Mitarbeitern.
Obwohl die Frühschicht mit gut 1.000 Menschen auf dem Gelände ist, habe ich das Gefühl, immer nur einige wenige Kollegen zu Gesicht zu bekommen. Ohnehin gleitet mein Blick noch immer gebannt an den einzelnen Kojen vorbei. Kleidung, Spiele, Hausrat, Unterhaltungselektronik, Werkzeug, Gartengerät: Noch immer sehe ich die Hallen aus der Perspektive des Kunden. Es fühlt sich an, als shoppe man in einem riesigen Einkaufszentrum. Doch statt hintereinander in den Buchladen, die Boutique, die Parfümerie und den Heimwerkermarkt zu gehen, stehe ich ständig in allen Läden gleichzeitig. Das ist ganz schön anstrengend. Wenn Amazon das riesige Containerschiff ist, auf dessen Waren ich im Internet schaue, arbeite ich nun in dessen Maschinenraum.
Mittlerweile befinden wir uns in Halle C, wo es keine einzelnen Etagen gibt, sondern sich die Paletten ebenerdig nebeneinander aufreihen. Das verlängert die Wege, dafür spuckt der Scanner nun Mehrfachbestellungen aus: drei von diesem, vier von jenem Artikel. Das steigert die Picker-Statistik, macht aber auch einen Fahrzeugwechsel nötig. Statt wie im Pick-Tower eine Art kleinen Einkaufswagen mit zwei Totens vor uns herzuschieben, lenken wir nun einen Wagen, auf den bis zu neun Kisten passen. Entsprechend träge und schwer liegt das Gefährt in den Kurven. Dafür arbeitet es sich hier in der Halle C wesentlich angenehmer. Die Luft ist besser und kühler hier. Noch immer begleitet uns die Literflasche, die ich nach unserer 35-minütigen Pause um 10.30 Uhr sorgsam aufgefüllt habe. Der Betriebsrat hat dafür gesorgt, dass die Belegschaft zeitversetzt zur Pause strömt, um lange Wartezeiten in der Kantine zu vermeiden. Eine von vielen Verbesserungen, die die Mitbestimmung dem Unternehmen gebracht hat.
Während ich zunehmend müder werde, wirkt Ralf wie eben erst eingewechselt. Hat sicherlich auch etwas mit Training zu tun, rede ich mir schwitzend ein.
Je länger ich durch die Gänge fahre, umso geradliniger werden meine Touren. Umwege vermeide ich so gut es geht. Während die Beine sich bewegen, rattert es immer schon in meinem Kopf: Wo liegt das Produkt, wie parke ich den Wagen optimal, passt das jetzt noch in den Toten?
Zum Schluss machen wir noch einen Abstecher in die Halle H. Hier lagern all die Produkte, die gefährliche Stoffe beinhalten. Hazmat (steht für Hazardous materials and items)prangt es in dicken Lettern über dem Tor, das sich im Ernstfall fest verschließen lässt. Gefährlich sind diese Stoffe in dem Sinne, dass sie sich zum Beispiel entzünden könnten (Haarspray, Nagellackentferner) oder nicht auslaufen sollten (Motorenöl). Die Gänge sind hier wieder schmaler, unser Wagen ebenfalls. Dafür habe ich die Logik der Nummerierung schnell verinnerlicht und packe Pfefferspray (verkauft sich derzeit richtig gut), Lady-Gagas neues Parfum (geht so) und Anti-Mückenspray (bei dem lauen Winter stark im Kommen) in die Kiste. Ohne auf die Uhr zu schauen, vergeht die restliche Zeit wie im Flug. Das hatte mir Ralf schon geraten: „Stattdessen kannste lieber noch ein paar Kisten packen“, lacht er. Feierabend: Mein Co-Worker verabschiedet sich geradezu leichtfüßig ins Wochenende. Ich meine dagegen, aus meinen geliehenen Arbeitsschuhen Qualm aufsteigen zu sehen. 16.622 Schritte zählt das Gerät an meinem Hosenbund für diese Schicht. 13,6 Kilometer bin ich in den knapp acht Stunden gelaufen. Nicht schlecht für einen Praktikanten, oder?
[Eine Anmerkung zum Schluss: Dies ist eine Reportage über meinen Arbeitstag bei Amazon. Der Text ist deshalb subjektiv, beschreibt ausschließlich meine Beobachtungen und verzichtet – getreu den Regeln des Genres– auf Bewertungen und Kommentare.]
Gepostet vor 22nd March von René Schneider